Startseite

LVZ Interview vom 17.03.2014

Dieses Interview mit Andreas Geisler und Pier Meier erschien in der Leipziger Volkszeitung am 17.03.2014 auf Seite 14. Vielen Dank an die LVZ für die Genehmigung zur Veröffentlichung!

Nachtrag: Der Artikel jetzt auch als PDF

Schulsozialarbeit – „vom Makel zum Qualitätsmerkmal“

Stadtelternrat plädiert für Einführung an allen sächsischen Schulen / Ab heute Info-Kampagne
Schule braucht Sozialarbeit – das findet der Stadtelternrat Leipzig (SER) und startet am heutigen Montag mit dem Freischalten der Homepage www.schule-braucht-sozialarbeit.de eine umfangreiche Informationskampagne, die bis zu den Landtagswahlen andauern soll. Die Interessengemeinschaft der Eltern möchte die Schulsozialarbeit in Sachsen gesetzlich verankert wissen. Ihrer Ansicht nach muss jeder Schultyp die Möglichkeit einer qualifizierten sozialpädagogischen Begleitung der Mädchen und Jungen bieten. Der Einsatz der Sozialarbeiter sollte jedoch demokratisch über einen Beschluss der Schulkonferenzen erfolgen. Bei der Finanzierung sehen der SER-Vorsitzende Andreas Geisler (48) und Pier Meier (48), einer seiner Stellvertreter, den Freistaat in der Pflicht. Im LVZ-Interview äußern sich beide zu den Hintergründen ihres Vorhabens.

Frage: Meine Herren, was führen Sie im Schilde?
Andreas Geisler: Nur Gutes. Wir befinden uns augenblicklich in einer Situation, in der unsere Schüler Berge von Wissen schlucken müssen, die sie dann in Prüfungen erbrechen, um sie später zu vergessen. Was bei dieser Bildungsbulimie völlig zu kurz kommt, ist die Vermittlung von Lern-, Schreib-, Lese- und Rechenkompetenzen. Und im besonderen Maße von Sozialkompetenzen. Da viele Eltern heutzutage nicht in der Lage sind, ihren Kindern soziale Werte wie Gemeinschaftssinn, Fürsorge und Rücksicht zu vermitteln, muss dies auch die Schule tun. An Einrichtungen, in denen die Mehrzahl der Schüler einen Migrationshintergrund hat, aus einkommensschwachen oder bildungsfernen Familien stammt, wäre Schul- sozialarbeit sicher ein Segen. Aber eben nicht nur dort. Denn es gibt auch eine verstärkte Wohlstandsverwahrlosung, wie uns Schulleiter berichten.

Frage: Ein, zwei Sozialarbeiter pro Schule sollen auffangen, was die Gesellschaft verbockt?
Andreas Geisler: Wir fordern keine Feuerwehr, sondern Rauchmelder, die verhindern, dass es brennt. Ein Schulsozialarbeiter kann ein Kind ganz und gar als Mensch sehen. Er muss es nicht bewerten, ihm keine Zensuren geben. Bei seiner Arbeit geht es allein um den Menschen. Den Menschen aus einem bestimmten Elternhaus, aus einem speziellen sozialen Kontext, in einer bestimmten Lernsituation. Er ist unabhängiger Mittler, nicht zuletzt zwischen dem Kind und seinen Lehrern. Er geht auf Bedürfnisse ein, die in unserem straffen Schulsystem verlorengegangen sind.

Frage: Warum werben Sie jetzt für dieses Thema, warum nicht schon früher? Der Pisa-Hype im Freistaat ist schließlich schon ein paar Jahre alt, und soziale Spannungen zwischen Schülern beziehungsweise zwischen den jungen Leuten und ihren Lehrern sind auch nicht neu.
Pier Meier: Auslöser war im vergangenen Jahr der Kampf von Leipziger Eltern, Lehrern, Schulleitern und Schülern um den Erhalt von Sozialarbeiterplätzen an 16 Schulen. Damals endete die Bezuschussung durch den Bund. Der Stadtrat ist dann mit kommunalen Mitteln fürs Erste in die Bresche gesprungen. Die Messestadt weist mit Abstand die meisten Schulsozialarbeiter in Sachsen auf. Dass sich diese Initiative, diese Bewegung von unten, in Leipzig formierte, wundert mich daher nicht. Allerdings steht der Status quo auf wackligen Beinen. In einem Jahr oder in zwei Jahren wird es vielleicht wieder ums liebe Geld gehen. Dann beginnt das Feilschen womöglich von vorn. So aber bekommen wir keine Kontinuität hin. Deshalb gehen wir jetzt in die Offensive.

Frage: Wo läuft Schulsozialarbeit in Leipzig bereits?
Andreas Geisler: An den Oberschulen, Förderschulen, Beruflichen Schulzentren und an einigen wenigen Grundschulen, beispielsweise an der Schule am Rabet, in der Kinder aus mehr als 20 Ländern unterrichtet werden. Insgesamt an 53 Einrichtungen. Also nur an einem Drittel aller Schulen in der Stadt.
Pier Meier: Leider nicht an unseren Leipziger Gymnasien. Dort gibt es bis heute keinen einzigen Sozialarbeiter. Allerdings wird das Thema Prävention an diesen Einrichtungen gerade entdeckt. Und damit die Schulsozialarbeit.
Andreas Geisler: Eins ist klar: Je früher Sozialarbeit einsetzt, desto besser. Das Ganze muss wachsen. Es braucht Sicherheit und Vertrauen. Beides stellt sich jedoch nur über einen längeren Zeitraum ein.

Frage: Schulsozialarbeit läuft bislang über freie Träger. Das soll auch so bleiben. Neu ordnen wollen Sie die Finanzierung.Die Kommunen sollen entlastet und der Freistaat, der sich bislang raushält, soll bei den Kosten zu 100 Prozent gefordert werden. Ist das nicht ein bisschen blauäugig?
Andreas Geisler: Ganz hält sich das Land bislang gar nicht raus. Der Freistaat hat durchaus erkannt, dass etwas schief läuft, denn im Berufsvorbereitungsjahr an den Beruflichen Schulzentren leistet er sich Schulsozialarbeit. Allerdings legt die Staatsregierung Wert darauf, dass es sich hierbei um pädagogische Fachkräfte, nicht um Sozialarbeiter handelt. Erst bei den 16-Jährigen mit schlechten Schulabschlüssen anzusetzen, die dann mit Mühe und Not auf eine Lehre vorbereitet werden sollen, halten wir für viel zu spät. In dem Alter erreicht man die Schüler viel schwerer. Natürlich hat der Freistaat viel getan für die Bildung, er hat aber auch mächtig viel gespart. Und zwar bei den Lehrern. Schon jetzt fällt selbst bei 25 Prozent der Fünftklässler an sächsischen Gymnasien ein Mangel an verstehender Lese- und Rechtschreibkompetenz auf. Das Geld, das das Land beim Lehrpersonal zurückhält, sollte zum Ausgleich wenigstens in die Schulsozialarbeit fließen. Zumal bei uns ein gut ausgebildeter Sozialarbeiter gegenwärtig einfacher zu finden ist als ein gut ausgebildeter Lehrer. Die gehen nämlich lieber in andere Bundesländer, wo sie besser bezahlt werden.
Pier Meier: Schulsozialarbeit ist Bildung. Das muss in unser aller Köpfe. Die Schublade Jugendhilfe ist die falsche.

Frage: Was macht Sie so sicher, dass die Lehrer das auch so sehen?
Pier Meier: Da, wo Schulsozialarbeit bereits läuft, sei es an Berufs-, Förder-, Ober- oder Grundschulen, ist das Feedback überwiegend positiv. Am 31. März ab 19 Uhr wollen wir im Sitzungssaal des Neuen Rathauses eine Informationsveranstaltung durchführen, bei der Schulleiter über ihre Erfahrungen mit Schulsozialarbeit berichten werden. Und es werden einige sprechen. Die würden das nicht tun, wenn sie von der Sache nicht überzeugt wären.
Andreas Geisler: Wir wollen nicht verhehlen, dass manche Lehrer in Schulsozialarbeitern vor allem Konkurrenten sehen. Häufig sind das solche, die bislang nur von außen auf das Konzept schauen. Sie befürchten, ihre Schüler könnten sich den Sozialarbeitern mehr öffnen, als sie es ihnen gegenüber tun. Die, die bereits Erfahrung haben, sagen klipp und klar: Würde es den Schulsozialarbeiter an meiner Seite nicht geben, könnte ich diese oder jene Klasse erst gar nicht unterrichten, wäre ich entweder längst weg oder häufiger krank. Einige Schulleiter fürchten sich vor dem Mehr an Verwaltungsarbeit. Ist dann erst einmal Vertrauen gewonnen, sind sie begeistert, weil sie Entlastung spüren.

Frage: Glauben Sie nicht, dass viele Schulleiter die Sorge umtreibt, ein Sozialarbeiter sei schlecht fürs Image? Getreu dem Motto: Wer einen Schulsozialarbeiter hat, der hat seinen Laden nicht im Griff, bei dem herrscht Sodom und Gomorrha?
Pier Meier: Das mag früher so gewesen sein. Heute sollten Schulleiter damit werben. Gute Schulsozialarbeit nimmt Brisanz heraus und entschärft Probleme.
Andreas Geisler: Vom Makel zum Qualitätsmerkmal, so wird ein Schuh draus. Auf jeden Fall kann sich der Freistaat Sachsen nicht länger zehn Prozent Jugendliche ohne Schulabschluss leisten. Zusätzliche zehn Prozent sind nicht ausbildungsfähig, was für den Mittelstand fatal ist. Und Jugendliche ohne Sozialkompetenzen sind letztlich auch eine Gefahr für unsere Demokratie.

Interview: Dominic Welters